Harninkontinenz ist mit 35% die häufigste chronische Erkrankung bei Frauen. Aber auch Männer leiden unter Inkontinenz, allerdings viel seltener. Bei den über 65-jährigen sind zum Beispiel rund 18% der Frauen und neun Prozent der Männer inkontinent. Die Dunkelziffer ist aber vermutlich viel höher. Nach wie vor ist Inkontinenz ein Tabuthema und viele Patienten schämen sich, über die Probleme zu sprechen.

Inkontinenz tritt im Alter häufiger auf. Quelle: Insenio

 

 

Bei normaler Flüssigkeitsaufnahme suchen wir im Durchschnitt circa sechs Mal pro Tag eine Toilette auf. Dabei scheiden wir ungefähr 400 Milliliter aus. Hierbei handelt es sich aber nur um Richtwerte. Die Menge und Häufigkeit kann nach Alter, Jahreszeit, Ernährung, Trinkmenge etc. variieren.

Anatomie des Beckens

Der Beckenboden besteht aus Muskeln, Faszien und Bändern und erfüllt wichtige Aufgaben im Körper:

  • Stützt die inneren Organe
  • Wichtig bei Ausscheidung von Urin und Stuhl (Verschluss)
  • „Tragende“ Rolle während der SS und bei der Geburt
  • Unterstützt die Sexualität
  • Stabilisiert Becken in Gang und Stand
  • Verstärkt seine Funktion bei Druckerhöhung im Bauchraum (z.B. Husten, Niessen…)

Der Beckenboden der Frau und des Mannes

 

Die Beckenmuskulatur besteht aus einer tiefen und einer oberflächlichen Schicht, welche wiederum in viele einzelne Muskeln unterteilt sind.

Die Beckenbodenmuskulatur unterteilt sich in verschiedene Gruppen

 

 

Der Beckenboden ist als Teil einer funktionellen Muskelkette und im Zusammenspiel mit verschiedenen anderen Strukturen, wie Bändern, Gelenken usw. und Funktionen, wie Haltung und Atmung zu betrachten und behandeln.

Inkontinenzformen

Belastungsinkontinenz (früher auch Stressinkontinenz)
Bei körperlicher Anstrengung und erhöhtem Druck im Bauchraum, beispielsweise durch Joggen, Husten oder Lachen, kommt es zu vermehrter Belastung des Beckenbodens. Der Verschlussdruck der Harnröhre ist in Belastungssituationen zu gering und die Patientin oder der Patient verliert Urin. Am häufigsten betrifft diese Inkontinenzform Frauen ab ca. 40 Jahren. Physiotherapie gilt bei Belastungsharninkontinenz als Behandlungsansatz erster Wahl. Die Wirksamkeit ist in Studien hinreichend belegt. Ziel ist den Verschlussdruck der Harnröhre in Belastungssituationen zu erhöhen.

Dranginkontinenz oder Urgeinkontinenz
Es kommt zu ungewolltem Harnabgang bei nicht unterdrückbarem Harndrang. Der Verschlussmechanismus ist im Allgemeinen voll funktionsfähig. Mögliche Ursachen sind eine Überaktivität des Harnblasenmuskels, eine Überempfindlichkeit der Harnblasenschleimhaut oder neurologische Erkrankungen. Ziel ist u.a. den Umgang mit der Drangsymptomatik und eine zeitlich selbstbestimmte Entleerung zu erlernen.

Seltenere Formen sind Reflexinkontinenz (z.B. bei Querschnitt) oder Überlaufinkontinenz. Es gibt auch Mischformen der beschriebenen Inkontinenzformen.

Inkontinenzformen nach Häufigkeit. Quelle: Insenio

 

 

Entstehung von Inkontinenz

Mit steigendem Alter lässt die Spannkraft des Gewebes und die Kraft der Muskulatur nach. Wie jeder andere Muskel im Körper, sollte deshalb auch der Beckenboden vor allem im Alter bewusst trainiert werden.

Gewisse Erkrankungen oder Ereignisse im Leben eines Menschen können Inkontinenz begünstigen:

  • Operation bei Prostatakarzinom
  • Dammriss bei der Geburt
  • Viele Geburten
  • Neurologischen Störungen
  • Übergewicht
  • In bestimmten Fällen: schwere körperliche Arbeit

In solchen Fällen ist es wichtig, dem Beckenboden sowie dem Beckenbodentraining ganz besonders viel Aufmerksamkeit zu schenken.

Symptome von Inkontinenz

Unkontrollierter Harnverlust (in bestimmten Fällen auch Stuhlverlust) ist ein typisches Symptom von Inkontinenz. Häufigeres Harnlassen (Pollakisurie), nächtliches Harnlassen (Nykturie), sowie die erhöhte Dringlichkeit, sofort eine Toilette aufzusuchen, deuten ebenfalls auf Inkontinenz hin.

Neben Inkontinenz kann eine Schwäche der Beckenbodenmuskulatur auch Probleme, wie ein Absinken der Beckenorgane, verursachen. Man spricht von Deszensus (Absinken) oder Prolaps (Vorfall) der Gebärmutter oder Vagina.

Folgen von Inkontinenz

Inkontinenz mindert die Lebensqualität der Betroffenen. Das kann so weit gehen, dass Patienten die Öffentlichkeit scheuen und sich isolieren. Vor allem starke Formen von Harninkontinenz und Stuhlinkontinenz schränken Frauen und Männer im Alltag hochgradig ein.

Was tun bei Inkontinenz?

Sollten Sie Zeichen von Inkontinenz bemerken, führt der Weg zum Facharzt: Gynäkologe oder Urologe. Nach dem Gespräch entscheidet der Arzt über weitere nötige Abklärung, z.B. Ultraschall oder Harnanalyse. In den meisten Fällen ist Physiotherapie mit Beckenbodentraining (konservative Behandlung) die Therapie der Wahl oder zumindest eine begleitende Massnahme. In bestimmten Fällen oder nach erfolgloser konservativer Therapie kann Medikation oder eine Operation angedacht werden.

Am Markt gibt zahlreiche Angebote für Heimübungen und Wundermittel, die Abhilfe bei Inkontinenz schaffen sollen. Vielleicht haben Sie schon von “Gewichtskugeln” oder speziellen Apps gehört. Beim Kauf und bei der Anwendung dieser Produkte ist jedoch Vorsicht geboten. Besprechen Sie dies vorher unbedingt mit Ihrem Arzt oder Physiotherapeuten.

Wie hilft Physiotherapie bei Inkontinenz?

Beim ausführlichem Erstgespräch erkennt die Therapeutin oder der Therapeut meist bereits das Grundproblem. Oft werden zusätzlich spezielle Fragebögen verwendet, um ein möglichst gutes Gesamtbild zu erhalten. Physiotherapeuten mit spezieller Zusatzausbildung können dann auch mithilfe der Palpation (Tasten) oder einer Vaginal- oder Rektalsonde überprüfen, wie stark der Beckenboden angespannt werden kann.

Beckenboden-Elektrostimulation

Diese Sonden sind an ein Elektrotherapiegerät angeschlossen und können sowohl zur Stimulation und Aktivierung des Beckenbodens, als auch zum Biofeedback benutzt werden. Das heisst die Patienten erhalten Rückmeldung ob und wie stark sie den Beckenboden anspannen. Dies ist vor allem am Anfang sehr hilfreich. Spezielle Assessments werden verwendet, um den Verlauf messbar zu machen. Häufig verwendet wird das sogenannte „PERFECT mnemonic assessment“:

  • P für Power (Kraft)
  • E für Endurance (Ausdauer)
  • R für Repetition (Wiederholungen)
  • F für Fast contractions (Schnelles Anspannen)
  • ECT für „Every contraction timed“ oder “Elevation, co-contraction timed” (Sichtbare Bewegung des Beckenbodens, isoliertes Anspannen, Dokumentation)

Den Beckenboden bewusst zu spüren und zu aktivieren ist am Anfang gar nicht so einfach. Deshalb braucht es oft viel Zeit für Erklären, Sensiblisieren und das Üben der Aktivierung des Beckenbodens. Im weiteren Verlauf spielen Kräftigungsübungen für zuhause, die in der Therapie besprochen, geübt und regelmässig kontrolliert werden, eine grosse Rolle. In unterschiedlichen, alltagsnahen Positionen und Bewegungen wird die Funktion und Aktivierung des Beckenbodens erlernt. Bei Bedarf kommen auch Hilfsmittel und Therapiegeräte, wie ein Gymnastikball oder Trampolin zum Einsatz.

Je nach Inkontinenzform unterscheiden sich die Therapiemassnahmen. Hilfreiche Tipps und Tricks für den Alltag, wie „Verhaltensstrategien“, „Toilettentraining“ oder ein sogenanntes Miktionstagebuch, leisten zusätzliche Unterstützungsarbeit.

In der Therapie wird aber nicht nur der Beckenboden untersucht und behandelt. Ein gut funktionierendes Zwerchfell, eine optimale Körperhaltung, gute Beweglichkeit der angrenzenden Gelenke, Muskelspannungen und die Atmung sind für einen stabilen Beckenboden wichtig. Unsere Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten mit spezieller Beckenbodenausbildung beraten Sie gerne.