Seit wann lebst du in der Schweiz?

Nach der Ausbildung hat es mich vor sieben Jahren in die Schweiz gezogen. In Deutschland habe ich nur zwei Monate als Physiotherapeutin gearbeitet. Ursprünglich komme ich aus dem Grenzgebiet bei Lörrach, deshalb waren mir Mentalität und Sprache der Schweiz bereits vertraut. Meine Eltern haben in jungen Jahren selbst in Basel gearbeitet, und in meiner Verwandtschaft gibt es einige Schweizer – deshalb war es naheliegend, dass ich mein Glück in der Schweiz versuche.

Wie unterscheidet sich der Berufsstand der Physiotherapeutin in Deutschland zu dem in der Schweiz?

In Deutschland steckt die Physiotherapie noch in den Kinderschuhen. Zum einen da die Therapeuten meist nicht akademisiert sind, zum anderen weil ihnen gesellschaftlich weniger Anerkennung zukommt. Es findet seit einigen Jahren eine Neuorientierung statt. Da dieser Prozess in der Schweiz schon weiter vorangetrieben ist, ist man hier einen Schritt weiter und die Physiotherapie ist bereits emanzipierter. Ausserdem gibt es hier mehr Möglichkeiten, um die eigene Expertise anzuwenden. Hier ruft der Arzt an und fragt nach meiner fachlichen Meinung. Das passiert in Deutschland so gut wie nie. Dort liegt der Patient schon auf dem Bauch, wenn die Therapeutin den Behandlungsraum betritt, mit der Erwartung: Jetzt gibt es eine Massage. Es ist frustrierend, dass in Deutschland das Berufsbild der Physiotherapeutin so stark abweicht von dem in der Schweiz. Diesen Frust spüre ich auch bei meinen Kollegen in der Heimat – da heisst es bei Gesprächen irgendwann: “Wir kommen in die Schweiz.”

War dieses Selbstverständnis der einzige Grund für einen Umzug in die Schweiz?

Nein, der finanzielle Aspekt hat natürlich auch eine Rolle gespielt. Besonders als junger Mensch hat man bei einer Anstellung in der Schweiz plötzlich das Gefühl: Jetzt kann ich mir mal etwas leisten. Ausserdem hat mir gefallen, dass der Patient stärker im Fokus steht und nicht die Frage, wie viel man von der Krankenkasse ausbezahlt bekommt. Der Finanzdruck ist in Deutschland höher, da Unternehmen eine grössere Angst davor haben, die Löhne nicht bezahlen zu können. Ein weiteres Plus ist die vergütete Dokumentationszeit in der Schweiz, denn das Schreiben der Befunde ist ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit. Wenn man diese Aufgabe mehrheitlich mit Überzeit erledigen muss wie in Deutschland, dann erledigt man die Arbeit nur ungern und weniger genau.

Hattest du als deutsche Physiotherapeutin in der Schweiz mit Startschwierigkeiten zu kämpfen?

Nach fünf oder sechs versendeten Bewerbungen bin ich im Aargau gelandet. Meine damalige Chefin hat sich sehr dafür eingesetzt, dass ich schnell den nötigen Anschluss finde. Das hat mich sehr berührt. Schlechte Erfahrungen habe ich keine gemacht.
Mein Freundeskreis ist hier sehr international – das geniesse ich. Die Schweiz ist multikulturell und so besteht auch unser Team in Winterthur aus fünf verschiedenen Nationalitäten. Ich muss schon sagen, dass ich am Anfang sehr deutsch war. Nach sieben Jahren habe ich mich aber angepasst. Ich habe das Gefühl, ich kann das Beste aus beiden Nationalitäten vereinen und durfte hier bereits vieles lernen – wie beispielsweise eine diplomatische Gesprächskultur. Mir geht es gut in der Schweiz, ich bin verankert und glücklich.

Gab es wirklich keine Hürden, die du meistern musstest?

Vielleicht die Bürokratie. Da Deutschland noch nicht auf Bachelor-Niveau ist, kann es etwas dauern, bis man die endgültige Anerkennung in der Schweiz erhält. Das macht aber nichts. Arbeiten kann man trotzdem. Bei meiner aktuellen Arbeitgeberin Physiozentrum wird man diesbezüglich auch sehr unterstützt. Mir ist es als Zentrumsleiterin wichtig, meine ausländischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit dem Papierkram nicht alleinzulassen und ihnen alle nötigen Informationen zur Verfügung zu stellen.

Erfährst du von ausländischen Arbeitskolleginnen und -kollegen, welche Herausforderungen sie in der Schweiz zu meistern haben?

In der Schweiz arbeiten Therapeutinnen und Therapeuten viel autonomer und mit der Mehrverantwortung muss man mehr Kompetenz an den Tag legen – das fängt bei Coaching-Kompetenzen an und hört bei spezifischem Wissen über Prognosen auf. Der Anspruch an das Fachwissen einer Physiotherapeutin ist in der Schweiz sehr hoch, das kann Druck ausüben. Diesen Druck nehme auch ich als Herausforderung wahr, die mich aber dazu anregt, mich immer wieder weiterzubilden.

Sind denn Physiotherapeuten in der Schweiz besser als die deutschen Kollegen?

Nein, das sind sie nicht. In Deutschland liegen die Defizite nicht in der Kompetenz, sondern im Gesundheitssystem – Vergütung und Wertschätzung im politischen System lassen zu wünschen übrig.

Du kannst dir vorstellen, in die Schweiz zu ziehen? Gute Leute sind immer gefragt. Bewirb dich!