Das Kiefergelenk knackt hin und wieder mal? Kein Grund zur Sorge, solange Sie keine Schmerzen spüren. Wird aber das Kauen oder das Öffnen des Munds zur schmerzvollen Qual, sollten Sie der Sache auf den Grund gehen. Wann und weshalb Sie das tun sollten, weiss unsere Physiotherapeutin Anja Hinteregger.

Anja, erklär uns den weitverbreiteten Fachbegriff «Craniomandibuläre Dysfunktion» (CMD).

CMD ist eine Funktionsstörung des Kausystems. Dabei können die Kiefergelenke, die Kaumuskulatur oder der Zusammenbiss der Zähne von Schmerz und/oder Fehlfunktion betroffen sein.

Wann kommt Kieferphysiotherapie zum Zug?

Kurz gesagt bei Problemen mit dem Kausystem. Häufige Beschwerdebilder sind myofasziale Syndrome, eine Verlagerung der Gelenkscheibe im Kiefergelenk (Diskusverlagerung) und posttraumatische Schmerzen, etwa nach einem Bruch. Die Patienten klagen vielfach über Bewegungseinschränkungen oder anhaltende Schmerzen, z.B. beim Essen, Sprechen oder Kauen. Kopfschmerzen oder Tinnitus können auch Folgen von Kieferbeschwerden sein.

Und was tut ihr konkret gegen Kieferbeschwerden?

Wie die «klassische» Physiotherapie setzt sich auch die Kieferphysiotherapie aus verschiedenen Interventionen zusammen. Darunter fallen die Manuelle Therapie, die Eigenmobilisation zur Förderung und Erhaltung der Beweglichkeit, koordinative Übungen zur Verbesserung der Kiefermotorik oder auch die Detonisation zur Senkung der muskulären Spannung.

Bietet ihr auch Hilfe zur Selbsthilfe an?

Klar, das ist sogar sehr wichtig. Wir vermitteln unseren Patienten Strategien, die sie in ihren Alltag integrieren können. Gemeinsam mit ihnen definieren wir Übungen, mit denen sie das tägliche Zähneknirschen oder die sogenannten Parafunktionen (nicht natürlicher Gebrauch des Kauapparates) reduzieren bzw. verhindern können. Die grosse Frage: Wie vermeide ich Gewohnheiten wie Zähnepressen, -knirschen oder Lippen- bzw. Wangenbeissen?  Auch Kaugummi- und Nägelkauen oder Kopfabstützen gehören dazu. Es gibt viele praktische Tipps zur Entlastung des Kiefers, Wahrnehmungsübungen und diverse Entspannungstechniken.

Hast du ein Beispiel dazu?

Dies können Entspannungsübungen, Massagen, Bewegungs-, Koordinations- und Kräftigungsübungen sein. Zunächst ist es aber wichtig, den Kiefer in die optimale Ruheposition zu bringen. Dabei kann die TTBS-Methode helfen:

T = TONGUE
Ruhestellung der Zunge: Die Zungenspitze liegt hinter den oberen Schneidezähnen, ohne Druck auszuüben.

T = TEETH
Die Zähne sollten sich nicht berühren.

B = BREATHING
Atmen Sie durch die Nase ein und aus.

S = SWALLOING
Beim Schlucken: Vermeiden Sie Zusatzbewegungen der Halswirbelsäule, oder übermässige Spannung im Kiefer oder Mundbodenbereich. Die Zunge kehrt am Schluss zurück in ihre Ruhestellung.

Idealerweise überprüft man die Ruheposition des Kiefers mehrmals täglich. Besonders in Situationen, in denen man sich bereits selbst beim «Zähnepressen» ertappt hat.

Erklärst du uns noch eine Massageübung?

Gerne. Einen Kaumuskel, den man gut für die Eigenmassage findet, ist der Muskulus Masseter. Er liegt unterhalb der Wangenknochen und verläuft seitlich vom Ober- zum Unterkiefer. Wenn man die Zähne zusammenbeisst, kann man den Muskel mit den Fingern spüren. Wieder locker lassen und z.B. mit Ausstreichen oder gehaltenem Druck den Muskel massieren. Hier wichtig: Man sollte nicht über die Schmerzgrenze gehen und zwischen den Massageübungen immer wieder eine Entspannungsübung einschieben.

Also verfolgt ihr einen ganzheitlichen Ansatz?

Wie bei anderen Beschwerden am Bewegungsapparat, muss ich nicht nur die Beweglichkeit und Kraft der angrenzenden Gelenke berücksichtigen, sondern auch den Alltag und die Realität des Patienten. Und genauso ist es beim Kauapparat – wir beachten die Gewohnheiten des Patienten, aber auch die Zahnstellung sowie den Schulternackenbereich als angrenzende Regionen. Es kommt auch vor, dass neben der Physiotherapie weitere Massnahmen wie etwa eine Schienenversorgung, Kieferorthopädie oder Logopädie notwendig sind.

Und das Ziel der Kieferphysiotherapie-Behandlung?

Das Ziel ist Teil der Strategie, die wir gemeinsam mit dem Patienten definieren. Letztlich müssen wir langfristig und nachhaltig die Beschwerden lindern und das Selbstmanagement fördern. Je mehr Eigeninitiative die Patienten mitbringen, desto schneller verbessert sich in der Regel ihre Situation.