Der Bundesrat hat Anpassung der Physiotherapie-Tarife vorgeschlagen. Neu soll die Sitzungsdauer in die Tarife einfliessen. Der Bundesrat schlägt zwei mögliche Anpassungen vor:

  1. Eine Mindestdauer für allgemeine und aufwändige Therapie von 30 bzw. 45 Minuten. Die aktuellen Taxpunkte bleiben gleich. Zudem soll eine neue, kürzere Taxposition für 20 Minuten geschaffen werden.
  2. Eine Grundpauschale für eine Sitzungszeit von 20 Minuten soll eingeführt werden, bei welcher für jede weitere 5 Minuten eine zusätzliche Pauschale abgerechnet wird.

Ausserdem soll die Beschreibung der Sitzungspauschale für aufwändige Therapie (7311) präzisiert werden.

Wir lehnen den Tarifeingriff entschieden ab. Hier die Gründe:

Halbe Sachen

Dass der Vorschlag gemäss der Medienmitteilung nur «minimale» Anpassungen beinhaltet, zeigt, dass der Bund die Herausforderungen in der Physio-Branche nicht erkannt hat. Wurde eine Situationsanalyse gemacht um den Ist-Zustand zu erheben? In der Physiotherapie wird keine Diagnose ohne Befund gemacht. Ist der Bundesrat auch so vorgegangen? Oder hat er nur eine Seite der Tarifpartner (Versicherungen) angehört?

Keine Richtlinien

Eine neuer Vorschlag sollte Qualitätsrichtlinien als Kern der Tarifstruktur verlangen. Alle weiteren Elemente des Tarifmodells wie die Behandlungsdauer, Taxpunkte etc. sollten künftig darauf ausgerichtet werden. Der offizielle Leistungsauftrag wäre die optimale Grundlage für alle Diskussionen. Mit definierten Vorgaben und Zielen liesse sich ein gemeinsames Verständnis der Physiotherapie pflegen. Die Richtlinien sollten die Therapiequalität und die Versorgung im Fokus haben – und nicht die Kosten.

Unbezahlte Arbeit

Auf die unbezahlte Arbeit wie die Berichterstellung, der interdisziplinäre Austausch, das Aktenstudium oder die Dokumentation wird gar nicht erst eingegangen. Die Arbeit in Abwesenheit des Patienten ist in den vergangenen Jahren gestiegen und heute schon mehrheitlich unbezahlt (siehe Studie von Physioswiss) – Tendenz weiterhin steigend.

Tiefer Lohn

Variante 2 sieht eine 20-Minuten-Grundpauschale und 5-Minuten-Blöcke vor. Bei einer aufwändigen Therapie sind maximal 75 Minuten erlaubt. Ein Physio im Kanton Zürich macht mit dieser Behandlung ca. 133 Franken Bruttoumsatz. Ein Vergleich: Ein Maniküre-Studio in Wil verdient in der gleichen Zeit 150 Franken. Für den Lohn wird vom Umsatz wird noch die Miete, Nebenkosten, Versicherungen, Material, IT, Reinigung und mehr abgezogen. Das ist für ein Leistungserbringer im Gesundheitswesen zu wenig.

Kein Teuerungsausgleich

Die Teuerung wurde nicht berücksichtigt. Die Ausgaben für den Betrieb einer Praxis wie Miete, Material etc. sind in den vergangenen 25 Jahren gestiegen, die Physios verdienen aber auch mit dem neuen Vorschlag immer noch gleich viel, bzw. netto durch die Preissteigerungen immer weniger.

Keine Wertschätzung

Die Physiotherapie wird nicht als wichtiger Teil des Gesundheitssystems und wissenschaftliche Disziplin mit Evidenz geschätzt. Wäre das der Fall, würde der Bund mit dem Vorschlag die Arbeitsbedingungen der Physios verbessern und die Weiterentwicklung fördern.

Falscher Fokus

Die Regelung der Behandlungszeit ist an sich eine gute Sache, da sie für Transparenz sorgt. Die Dauer ist aber beileibe nicht das dringendste Problem der 25 Jahre alten Tarifstruktur. Der Bundesrat schraubt vor allem an der Zeit-Thematik. Wichtigere Themen sind Qualitätsrichtlinien, die Behandlungsqualität, der interdisziplinäre Austausch, ein Anreizsystem und mehr.

Die Rechnung nicht gemacht

Die Mitteilung impliziert, dass die Gesundheitskosten in der Physiotherapie zu stark gestiegen sind. Wohl aus diesem Grund ist der Vorschlag kostenneutral und ändert an den Taxpunkten von 1997 nichts. Dass die Physiotherapie sich steigender Beliebtheit erfreut, weil die Methoden erwiesenermassen wirksam und vergleichsweise kostengünstig sind – und z.B. durch Verhinderung von Operationen sogar Kosten einsparen – wird komplett vernachlässigt. Der Bund und die Versicherungen machen die Milchbüchlein-Rechnung nicht.

Keine Anreize für Qualität

Das vorgestellte Modell setzt null externe Anreize für Therapeuten ihr Fachwissen, die Diagnostik und die Behandlungsqualität zu fördern. Physios haben zum Glück für das Gesundheitssystem eine grosse intrinsische Motivation, sich für die Patienten weiterzuentwickeln. Diese Motivation ist jedoch ohne Wertschätzung begrenzt. Monetäre Anreize für gute Arbeit wie in vielen anderen Branchen (z.B. in der Versicherungsbranche) würden die Qualität der Physiotherapie steigern.

Gefährdete Versorgung

Begrenzt sich die aufwändige Therapie (7311) auf eine fix definierte Liste, fallen andere komplexe Fälle durch das Raster. Für diese Fälle kann ohne kostendeckende Entschädigung keine adäquate Behandlung sichergestellt werden, da Investitionen in die Infrastruktur, in den interdisziplinärer Austausch, in Weiterbildungen, etc. nur eingeschränkt möglich sind. Eine optimale Behandlung kann nicht sichergestellt werden und die Versorgung dieser Patientengruppe ist gefährdet.

Qualität ist nicht Dauer

Der Bundesrat setzt die Behandlungsdauer mit der Behandlungsqualität gleich. Das ist ein Trugschluss. Dank genauen Befunden und Assessments werden gezielte Interventionen ausgewählt: Das benötigt nicht zwingend mehr Zeit, sondern Fachwissen und das Verständnis von komplexen Zusammenhängen. Für eine gute Therapie braucht es vor allem gute Physios. Zudem findet die Genesung nicht nur während der Therapie sondern auch danach statt. Und: Eine schlechte Therapie nicht besser, wenn sie länger dauert.

Keine Planbarkeit

Wenn unterschiedliche lange Behandlungen gewählt und Termine in 5-Minuten-Schritten skaliert werden können, erschwert das die Planung ungemein, Lücken in der Agenda sind vorprogrammiert. Jede Lücke bedeutet einen Ertragsausfall. Das kann sich mit den vorgeschlagenen Taxpunkten keine Praxis leisten.

Verschlechterung der Qualität

Wenn bei der aufwändigen Therapie (7311) nur bestimmte Krankheitsbilder vorgegeben sind, warum sollte sich ein Physio bei einer vermeintlich “allgemeinen” Therapie (7301) noch die Mühe machen, die Gesamtheit und Komplexität eines Falles zu erfassen? Dafür besteht weder ein finanzieller Anreiz, noch könnte (wenn nötig) mehr Therapiezeit angeboten werden. Damit verhindert der Bundesrat eine umfassende und nachhaltige gesundheitliche Versorgung der Patienten.

Mehr Aufwand, gleicher Lohn

Der Bundesrat geht davon aus, dass die aufwändige Therapie generell länger dauert, als eine allgemeine. Das stimmt nicht: Eine Aufwändige Therapie braucht nicht zwingend mehr Behandlungszeit, sondern auch mehr Fachwissen und Einsatz von Seiten der Physios. Eine erzwungene Erhöhung der Behandlungszeit bei gleicher Entlöhnung erhöht die Behandlungsqualität vermutlich nicht.

An der ambulanten Strategie vorbei

Die Strategie im Gesundheitswesen ist ambulant vor stationär. Folglich steigen die Kosten für ambulante Leistungen wie die Physiotherapie. Der Bundesrat schwächt mit seinem Vorschlag aus genannten Gründen die ambulante Physiotherapie und damit die Strategie.

Keine Investitionen

Die Physiotherapie ist eine seit Jahren unterfinanzierte Branche. Ohne Erhöhung der Entlöhnung kann immer weniger in Infrastruktur, Behandlungsmethoden und Weiterbildungen investiert werden. Allesamt wichtige Faktoren für eine erfolgreiche und effiziente Therapie.

Auf dem Rücken Physiotherapie

Die von Jahr zu Jahr steigenden Prämien werfen kein gutes Licht auf die Gesundheitspolitiker. Die Physiotherapie muss als Sündenbock herhalten, sie hat keine Lobby im Bundeshaus wie z.B. die Versicherungen oder die Pharma-Branche. Bundesrat und die Versicherungen betreiben Symbolpolitik, wenn sie auf den gestiegenen Kosten der Physiotherapie rumhacken: Die Physiotherapie macht nur gerade 3,6% der gesamten Gesundheitskosten aus.

Fazit

Der Bundesrat hat kein Interesse daran, die Physiotherapie in der Schweiz weiterzuentwickeln, sondern provoziert mit seinem Vorschlag eine Verschärfung der aktuellen Probleme wie Personalmangel, finanzielle Schwierigkeiten der Praxen und damit verbundene Arbeitsbelastung und -ausfälle. In Kombination mit fehlenden Anreizen für Investitionen und eine möglichst hohe Behandlungsqualität kann das zu einer weiteren Verknappung des Angebotes und Einschränkungen in der Behandlungsqualität führen. Die Vorschläge fallen zu Lasten der Physiotherapeuten und schlussendlich zum Leidwesen der Patienten aus. Der Bund erkennt die wichtige Rolle der Physiotherapie im Gesundheitssystem der Schweiz nicht und schwächt mit diesem Vorschlag die bereits unterfinanzierte Branche.

Geben Sie der Physiotherapie Ihre Stimme!

Online-Petition auf: faire-physio-tarife.ch
Herzlichen Dank! 🧡